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07 September 2023 Christian Wißler, Pressestelle, Universität Bayreuth

Die meisten Staaten in Westafrika haben keine verlässlichen Daten über die Zahl und die Herkunft der Migrant*innen, die innerhalb ihrer Grenzen leben. Die Regierenden nutzen diese Unklarheit oft zur Festigung ihrer eigenen Machtposition. Eine Schlüsselfunktion haben dabei biometrische ID-Technologien, die auch bei fehlender Staatsbürgerschaft eine Teilhabe an Wahlen ermöglichen. Dies zeigt eine Fallstudie am Beispiel Nigerias, die Prof. Dr. Martin Doevenspeck von der Universität Bayreuth und Prof. Dr. Victor Chidubem Iwuoha von der University of Nigeria in der Zeitschrift „Territory, Politics, Governance“ veröffentlicht haben.

Die beiden Wissenschaftler haben von November 2021 bis Juni 2022 umfangreiche Forschungsdaten in vier nigerianischen Großstädten erhoben: Abuja im Norden, Lagos im Westen sowie Enugu und Aba im Osten. Interviews und Diskussionen mit Migrant*innen aus den benachbarten Staaten Tschad, Niger, Benin und Togo sowie weitere Methoden der empirischen Feldforschung lieferten Erkenntnisse aus erster Hand über den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Status der dauerhaft oder vorübergehend nach Nigeria eingewanderten Personen. Darüber hinaus wurden Zeitschriftenartikel, Radio- und Fernsehbeiträge, Internetportale und Berichte von Organisationen ausgewertet, die sich mit Migrationspolitik befassen.

Individuelle Ausweise mit eingebautem Mikroprozessor

Der nigerianische Staat verpflichtet alle im Land lebenden Personen zu einer amtlichen Registrierung. Hierfür wurde eine nationale e-ID-Karte geschaffen: Dies ist ein individueller Ausweis mit einem eingebauten Mikroprozessor, der eine nationale Identifikationsnummer (NIN) enthält. Er speichert neben Angaben zur Person auch biometrische Daten, insbesondere die Fingerabdrücke. Alle Daten werden zugleich in der nationalen Identitätsdatenbank (NIDB) hinterlegt. Wer einen Wohnsitz in Nigeria hat, ist mit oder ohne nigerianische Staatsbürgerschaft berechtigt, diese Form der digitalen biometrischen Registrierung ohne Einschränkung zu nutzen. Eine nationale e-ID-Karte ist aber bereits eine hinreichende Voraussetzung für die Teilnahme an Wahlen. Denn sie berechtigt dazu, sich eine permanent gültige Wählerkarte ausstellen zu lassen, die ihrerseits eine Stimmabgabe bei allen künftigen Wahlen in Nigeria erlaubt.

Teilnahme an Wahlen ohne Staatsbürgerrechte

Die Verknüpfung des uneingeschränkten Zugangs zur biometrischen Registrierung mit der Teilnahme an Wahlen widerspricht der nigerianischen Verfassung, welche das aktive Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft binden will. Der hohe Anteil von Migrant*innen führt so zu einer enormen Steigerung der Zahl der Wahlberechtigten. Die Studie beschreibt Vor- und Nachteile dieser Konstellation: Die Migrant*innen sehen sich als potenzielle Wähler*innen von der politischen Elite des Landes umworben. Sie fühlen sich in ihrer Zugehörigkeit zum nigerianischen Staat bestärkt und können auf den politischen Kurs ihres Landes Einfluss nehmen. Gleichzeitig verfügen sie jedoch nicht über die in der Verfassung vorgesehenen Staatsbürgerrechte und die entsprechenden Reisedokumente. Dadurch sind ihre Möglichkeiten, aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen in andere Länder zu reisen, eingeschränkt. Diese „Immobilisierung“ ist wiederum unvereinbar mit der zwischenstaatlichen Freizügigkeit, zu der sich die Mitgliedstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS – darunter auch Nigeria – schon 1979 bekannt haben.

Die Regierenden wiederum nutzen diese paradoxe Situation zur Festigung ihrer Machtposition aus: Sie betrachten die häufig in prekären Verhältnissen lebenden Migrant*innen als eine attraktive Klientel, die sich – auch mit Hilfe von Wahlgeschenken – leicht mobilisieren und zur Stimmabgabe bewegen lässt. Es kommt sogar vor, dass die Regierenden zusätzliche Wählerkarten an Migrant*innen verteilen lassen, was zur mehrfachen Stimmabgabe und somit zur Wahlmanipulation führt.

Instrumentalisierung von Migration in Westafrika

„Unsere Studie zeigt beispielhaft, wie die in Westafrika stark ausgeprägte Migration von den Regierenden häufig zum eigenen Vorteil instrumentalisiert wird. Die Digitalisierung hat nicht nur in Nigeria, sondern auch in anderen westafrikanischen Staaten biometrische Ausweissysteme ermöglicht, die neue nationale Zugehörigkeiten konstruieren und dadurch die Funktion der Staatsbürgerschaft als Grundlage nationaler Identität entwerten“, sagt Prof. Dr. Martin Doevenspeck, der am Geographischen Institut der Universität Bayreuth zu Migrationsbewegungen und Grenzräumen in Afrika forscht. Die meisten Migrant*innen innerhalb von Westafrika haben heute weder in ihren Herkunfts- noch in ihren Zielländern einen eindeutigen, international anerkannten Rechtsstatus, der ihnen einen legalen Zugang zu Reisedokumenten verschaffen würde. Machtinteressen seitens der politischen Eliten bewirken, dass sich dieser Zustand verfestigt. Während die Regierenden die Migrant*innen als Wähler an sich binden, schwächen sie zugleich deren Rechte auf internationale Freizügigkeit.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Martin Doevenspeck
Politische Geographie
Universität Bayreuth

Telefon: +49 (0)921 / 55-2273
E-Mail: doevenspeck@uni-bayreuth.de

Originalpublikation:

Victor Chidubem Iwuoha, Martin Doevenspeck: Dilemmas of ‘biometric nationality’: migration control, biometric ID technology and political mobilisation of migrants in West Africa. Territory, Politics, Governance (2023), DOI: http://dx.doi.org/10.1080/21622671.2023.2205885

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